Love Yourself. Oder: Die Kunst des Wartens.

 


Wir warten auf besseres Wetter und darauf, dass Wunder geschehen.
Wir warten am Montag schon auf Freitag, darauf, endlich unsere oberflächlichen und versnobten Freunde an der Theke wiederzusehen.
Wir warten auf Züge, auf Busse, darauf, dass endlich unsere Nummer aufgerufen wird.
Und wir warten darauf, dass niemand die Geduld mit uns verliert.
Wir warten auf die große Liebe oder auf den ersten Schnee, oder auf bessere Zeiten, die uns in eine bessere Zukunft geleiten.
Wir warten auf ein Leben, das wir in unseren Träumen als Kinder schon lebten und wir warten auf Dinge, für die wir Nacht für Nacht zu irgendetwas beten.
Wir warten im Frühjahr auf die Ernte im Herbst und wir warten auf das gebrochene Herz, das so fürchterlich schmerzt und das sowieso kommt, weil wir glauben, kein Glück zu verdienen. Und sowieso: Wir haben uns in letzter Zeit viel zu oft aus lauter Einsamkeit ohne Gefühle fremden Menschen leichtfertig hingegeben. Also wieso sollten wir jetzt noch wahre Liebe verdienen?
Und trotzdem warten wir darauf verlassen zu werden, nur um festzustellen, dass die Beziehung niemals Liebe, sondern nur Kompromiss gewesen war.
Wir warten auf den besseren Job und das höhere Gehalt.
Wir warten auf den ersten Laut des Babys, das wir uns eigentlich sowieso nicht leisten können, weil der bessere Job und das höhere Gehalt, jemand anders bekommen hat, der nicht gewartet, sondern gehandelt hat.
Wir warten darauf, dass die Nase vielleicht doch noch etwas kleiner und der Bauch etwas dünner wird.
Wir warten darauf alt und krank zu werden und verdrängen, dass gerade jetzt, in diesem Augenblick, unsere beste Zeit gekommen ist.

Und irgendwann wird uns plötzlich klar, dass wir, während wir warteten, vergessen hatten, zu leben.
Und bei all dem Warten, vergessen wir uns und wir vergessen, weshalb es sich lohnt, jeden Morgen aufzustehen und in den Spiegel zu sehen und sich selbst so zu lieben, wie man nun mal ist.

Ich will nicht darauf warten, alt und grau zu werden.
Und ich will nicht darauf warten, verlassen, statt geliebt zu werden.
Ich will nicht auf das verpasste Baby warten und schon gar nicht darauf, dass meine Nummer doch noch irgendwann aufgerufen wird.
Und ich will nicht nur versagen, ich will endlich vagen.
Ich will nicht nur die miese Erfahrung machen, sondern auch etwas abbekommen von den guten Sachen.
Ich möchte endlich sagen: „Das mag ich aber nicht!“, und ich will nicht immer zu Kreuze kriechen und zu Fall gebracht werden, unter Eurem ganzen Gewicht.
Ich will nicht darauf warten, im Gänsemarsch zu marschieren, ich will fliegen wie ein Vogel, will mich in der Welt verlieren.
Ich will zehn kleine Schritte vorwärtsgehen und keine hundert großen zurück.
Und schon gar nicht will ich auf besseres Wetter warten, wenn ich doch auch im Regen tanzen kann.
Ich will nicht darauf warten, dass der Chef endlich meine Leistung sieht, ich denk´ mir einfach selber etwas aus und mache etwas ganz, ganz Großes daraus.
Ich habe die Schnauze voll vom Warten, vom Abstellgleis und nicht wichtig sein, vom Ach-verschieben-wir´s-auf-morgen und vom Was-du-heute-kannnst-besorgen-das-verschiebe-noch-besser-auf-über-über-übermorgen.
Denn während ich warte, tobt das Leben um mich herum. Also lasst uns das Kind beim Namen nennen; lass uns vor Glück hüpfen, tanzen und singen. Lasst uns selbst entscheiden, was wir wann wollen und nicht darauf warten, dass uns jemand sagt, wann wir etwas dürfen oder sollen.
Lass uns uns genießen.
Lass uns fliegen und träumen und keine Sekunde des Glücklichseins mehr versäumen.
Lass mal an uns glauben und lass uns kleine Wunder vollbringen, denn wir haben genug gewartet, müssen endlich über unsere errichteten Mauern springen.
Und bei allem, was noch kommen wird, vergiss niemals, dich selbst zu lieben.

 

©Cassia Cole 2019